Als Jesus unterwegs war, begegnete ihm ein junger Mann, der sehr vermögend war. Trotz seiner Jugendlichkeit – und trotz seines Reichtums – bemühte er sich ernsthaft, seine Religion gewissenhaft auszuüben. Um sicher zu sein, dass seine Korrektheit ihm das ewige Leben garantiere, nutzte er die Gelegenheit, sich bei Jesus die Bestätigung einzuholen. Er fragte:
„Guter Meister, was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben möge haben?“
Matthäus 19,16
Nach Lukas18,18 war er ein Oberster, ein ‚Kleriker’. Demzufolge benutzte er die Anrede für einen geehrten Rabbinen: ‚Guter Meister’. Jesus aber gab ihm zu verstehen, dass der Titel ‚Gut’ letztendlich nur auf Gott anwendbar ist, indem er ihm antwortete:
„Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote.“
Für den jungen Theologen eine seltsame Aufforderung; schließlich gaben sich die Rabbinen als die Hüter des Gesetzes aus. Deshalb fragte er ihn: „Welche?“
Jesus zählte zunächst ganz einfach einige Gebote des Dekalogs auf: »Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter« Dann fügte er aber den Geboten aus 2.Mose 20,12-16 noch ein weiteres aus 3.Mose 19,18 hinzu: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.
Da sprach der Jüngling etwas voreilig: Das habe ich alles gehalten; was fehlt mir noch? Seine Antwort war etwas voreilig, weil er sich auf die Gebote aus dem Dekalog konzentrierte, aber die Zusammenfassung der Gebote aus 3.Mose 19,18 überhörte. Nun erklärte Jesus ihm, was es heißt: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst: „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!“
Diese Begebenheit macht jedem Leser deutlich, dass es zwei Formen des ‚Gebote-Haltens’ gibt.
Die erste Form ist, wie sie der Jüngling verstanden hat: Ich töte nicht, ich ehebreche nicht, ich stehle nicht, ich lüge nicht – ich tue nichts (böses), also muss ich doch bei Gott angenommen sein, denn ich halte doch alle Gebote. Dieses Prinzip lässt sich natürlich auch auf die vier Gebote der ersten Tafel des Dekalogs anwenden: ich bete keine anderen Götter an, ich mache mir keine Bildnisse von Gott, ich missbrauche den Namen Gottes nicht… – Das ist die Ich-bezogene Form.
Doch nach Jesu Definition aus Matth.22,36-40 ist dieses legalistische, passive Halten der Gebote, dieses Nichts-Tun, nicht wirklich die Erfüllung der Erwartungen Gottes. Der Jüngling hielt die Gebote nur zum Selbstzweck, er wollte in den Himmel kommen; seine Mitmenschen dagegen waren ihm völlig unwichtig. Gottes Gebote erfüllen wir also nicht indem wir nichts tun. Die wahre, legale Form des Gebote-Haltens kann nur in einer Beziehung zu den Mitmenschen stehen. Gott liebt alle Menschen; also erwartet er von seinen Nachfolgern, dass sie allezeit bereit sind, jemandem, der Hilfe benötigt, auch Hilfe zu gewähren: ‚Lieben, wie er liebt’, lieben; mit einer Liebe, die ihnen Gutes zukommen lässt. Deshalb fügte Jesus seiner Rede den Nachsatz an: „verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!“
Diese zweite aktive Form des Gebote-Haltens ist natürlich nicht so einfach, um nicht zu sagen menschenunmöglich. Unsere zwischenmenschlichen Beziehungen werden (leider) mehr oder weniger von Sympathie und Antipathie gesteuert. Wie kann ich einen Menschen lieben, der mir nicht sympathisch ist; sollte ich etwa Liebe vortäuschen; heucheln? Hat Jesus vielleicht einen Fehler gemacht, als er sagte: „Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe“…dabei wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid“? (Joh.13,34f) Sicher nicht! Jesus lebte als Mensch (!) auf dieser Erde und er liebte jeden unterschiedslos, Jude wie Nicht-Jude! Also müssen wir es auch können; doch können wir es nicht aus uns heraus, sondern in der Kraft des Heiligen Geistes, der denen verheißen ist, die sich Jesus anvertrauen.
Das Problem des reichen Jünglings war, dass er sein Vertrauen nicht auf Jesus sondern auf seinen Reichtum gesetzt hatte. Er hätte nicht alles den Armen geben müssen, um dann selbst arm zu sein, sondern er musste nur das Prinzip lernen, sein ganzes Vertrauen in Gott zu setzen. Da Gott der nur immer Gebende ist, können auch seine Jünger immer Gebende sein, denn Gottes Segnungen werden seine Jünger nicht verarmen lassen. Wer Gott und seinen Nächsten opferbereit liebt, den wird Gott nie fallen lassen; es würde sonst ein schlechtes Bild von ihm unter den Menschen entstehen.
Vertraue Gott und erfahre es selbst!